Echte Freiheit
Oft hört man von jungen Menschen etwas wie das Folgende: „Man ist nur einmal jung – jetzt ist die Zeit, in
der ich das alles hinter mich bringe und auslebe; später werde ich schon noch sesshaft werden.“
Es ist leicht, in diese Haltung zu verfallen und anzunehmen, dass meine Handlungen in der Gegenwart so gut wie keinen
Einfluss darauf haben, wer ich in der Zukunft sein werde. Aber würden wir so über irgendetwas denken, das
wir wirklich ernst nehmen? Nehmen wir an, ich würde sagen: „Tief im Innern möchte ich eines Tages ein
wirklich guter Medizinstudent und sogar ein großartiger Arzt sein; aber ich werde erst später im
Medizinstudium ein diszipliniertes Leben führen.“ Oder, vielleicht ein sportliches Beispiel: „Tief im
Inneren möchte ich ein großartiger Werfer sein, aber im Moment mache ich mir keine Gedanken über meine
Technik, meine Position oder gar mein Training – das werde ich später herausfinden.“ Wir wissen intuitiv,
dass dies absurd wäre, denn Tatsache ist, dass jeder einzelne Wurf, den ich jetzt mit schlechter Technik werfe,
die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ich auch in Zukunft mit schlechter Technik werfen werde. Wie sagen die
Trainer doch immer – man spielt, wie man übt. Übung macht – wenn auch nicht perfekt – immer
beständiger.
Dies ist die moralische Vision der Tugend, wie sie bei Aristoteles zu finden ist – und sie hat zu meiner Bekehrung
beigetragen. Für Aristoteles gibt es eine starke Kontinuität zwischen meinen täglichen Handlungen und
dem, was ich werde; tatsächlich verändert für ihn jede einzelne Handlung langsam und stetig, wer ich
bin. Für Aristoteles wird man ein mutiger Mensch, indem man mutige Taten vollbringt. Dabei kommt es auf die
kleinen Dinge an, denn Handlungen werden schließlich zu Gewohnheiten (oder inneren Dispositionen), die einen dazu
veranlassen, in Zukunft ähnlich zu handeln. Das gilt sowohl für gute als auch für schlechte
Gewohnheiten (Tugenden und Laster): Je mehr ich eine Gewohnheit nähre, desto stärker wird sie. Was ich jetzt
tue – in den kleinen Dingen – wirkt sich direkt darauf aus, wer ich in fünf Jahren sein werde. Daher lautet die
moralische Frage, die wir uns stellen müssen, nicht einfach: „Was tue ich jetzt in dieser oder jener
Situation?“ Sondern vielmehr: „Wer will ich sein?“ In der Tat werde ich durch meine Entscheidungen zu
jemandem – ich verändere mein innerstes Selbst.
Daraus ergibt sich ein viel tieferer und umfassenderer Begriff von Freiheit als der, an den wir gewöhnt sind:
Normalerweise denken wir bei Freiheit einfach an die Fähigkeit, zu tun, was wir wollen und wann wir es wollen.
Aber es gibt auch eine tiefere Freiheit, nämlich die Fähigkeit, das Gute zu tun. Letzteres zeigt sich bei
allem, was Zeit, Übung und Disziplin erfordert, um es sich anzueignen: z. B. das Erlernen einer Fremdsprache, die
Verbesserung der Fitness, das Erlernen eines Musikinstruments oder die Beherrschung einer sportlichen Fähigkeit.
Die ersten Schritte sind unbeholfen und ungeschickt – und (vor allem am Anfang) ist unsere „Freiheit“,
solche Handlungen auszuführen, begrenzt. Aber mit der Zeit und mit fortgesetzter Übung werden sie immer
leichter – das heißt, unsere Freiheit wächst mit der Zeit durch Übung. Schließlich gelangen wir an
einen Punkt, an dem wir die Handlung immer müheloser, beständiger und mit Freude ausführen können.
Mit anderen Worten: Jeder kann einen Glückstreffer landen. Aber der wirklich gute Spieler ist zuverlässig
und beständig – und deshalb kann man sich auf ihn verlassen.
Aristoteles betrachtet das moralische Leben auf genau dieselbe Weise: Bei einem tugendhaften Leben geht es nicht
einfach darum, immer das „Schwierige“ zu tun; es geht darum, die Art von Mensch zu werden, der das Richtige
mit Freude, Beständigkeit und Leichtigkeit tun kann. Letztlich geht es darum, die Freiheit zur Liebe zu erlangen.
Für Aristoteles sind die Tugenden (z. B. Klugheit, Gerechtigkeit, Mut und Mäßigung) die
Fähigkeiten, die man braucht, um ein Leben in menschlicher Vortrefflichkeit zu führen, und – wie jede
Fähigkeit – werden sie im Laufe der Zeit durch Übung erlangt. Für ihn sind sie der Weg zum Glück –
als objektive Vervollkommnung unserer menschlichen Natur.
Wenn wir uns die Freiheit wünschen, wirklich zu lieben – den anderen an die erste Stelle zu setzen, auch wenn es
weh tut -, müssen wir uns selbst trainieren; denn die Person, die wir in fünf Jahren sein werden, hängt
direkt mit den Gewohnheiten zusammen, die wir jetzt entwickeln.
- Andrew Swafford
Erstmals am 06.01.2017 auf chastity.com veröffentlicht